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Marcel Reich-Ranickis Literaturkanon

und hier gehts zur FAZ und dem Kanon

Und hier zu Marcel Reich-Ranickis Antwort ("Kein Lahmer wird die Krücke schmähen") vom 8.1.03 an Siegrid Löffler

Kommentar: In der "Süddeutschen" wettert Thomas Steinfeld:

"Angeblich fängt die Weihnachtszeit am Ersten Advent an. Tatsächlich geht es im Spätsommer los. In den Elektroläden beginnen sich die Kompaktanlagen, in den Buchhandlungen die Kassetten zu türmen – einst, in uralten Zeiten, glich eine solche Kassette einer Weinkiste, und es befand sich die "Menschliche Komödie" von Honoré de Balzac darin, später kamen Martin Walser, Günter Grass oder die heftig im Preis reduzierte Hamburger Ausgabe von Goethes gesammelten Werken. In diesem Herbst nun soll sich die Kassette aller Kassetten in den Buchhandlungen stapeln: zwanzig Bände mit „über achttausend Seiten“ eine dicke weiße Kompaktanlage der Dichtkunst für „nur 149,90 Euro“, einschließlich rotem Handgriff. Heute wird Marcel Reich-Ranickis Kassette mit dem Titel „Der Kanon. Die deutsche Literatur. Romane“ ausgeliefert, morgen wird dieser Ghettoblaster der deutschsprachigen Prosa überall zu kaufen sein.

Kein Wort gegen Johann Wolfgang Goethes „Leiden des jungen Werthers“. Das schmale Bändchen ist auf dem deutschen Buchmarkt in sechsunddreißig Einzelausgaben, als Hörbuch, Schulausgabe und CD-Rom verfügbar. Kein Wort gegen Thomas Manns „Buddenbrooks“, immerhin im „Verzeichnis lieferbarer Bücher“ noch mit neun Ausgaben vertreten. Keines gegen Thomas Bernhards „Holzfällen“, ein Buch, das man nur – oder: immerhin noch – in immerhin vier Ausgaben kaufen kann. Kein Wort schließlich gegen ein Publikum, das sich in seiner Rat- und Orientierungslosigkeit an einen Mann wendet, den es für den exemplarischen Leser, den Leser aller Leser, hält, für eine erfahrene, gebildete, vertrauenswürdige Person im Umgang mit Literatur. Kein Wort schließlich gegen Marcel Reich-Ranickis Entscheidung, auf die ihm sicherlich oft gestellte Frage zu antworten, was man denn lesen müsse, wenn man nun überhaupt etwas lesen wolle. Nur – was auf diese Weise entsteht, ist kein Kanon, sondern beim besten Willen nicht mehr als eine knappe Liste mit persönlichen Empfehlungen. Den eigenen Geschmack aber, so begründet er sein mag, für einen Kanon zu halten, ist nur ein grandioses Missverständnis seiner selbst. Es ist deshalb völlig sinnlos, sich über die Auswahl der Romane und über den Umfang dieser Sammlung zu streiten.

Unter Hochstaplern

Es ist kein Zufall, dass die Philologen und die Literaturkritiker, wenn sie die Klage vom verlorenen Kanon anstimmen, immer wieder auf zwei Leitmotive zurückkommen: auf die Leseliste und auf den horror vacui, auf die Angst vor der Leere. Aber weder das eine noch das andere hat etwas mit einem Kanon zu tun. Den richtigen, den eigentlichen Kanon gibt es nur in der Kirche – oder besser: es gab ihn, und dass es ihn gab, ist schon eine Weile her, in einer Zeit nämlich, als selbst die gebildeten Gläubigen noch an den einfachen Schriftsinn glaubten und also von Philologie oder Geschichtswissenschaft gar nichts wissen wollten. Sie kannten tatsächlich einen Kanon: den immer wieder weitergetragenen Stoff, an dem sich Lehrlinge schulten, indem sie abschrieben und auswendig lernten. Und wenn sie mit ihrer Ausbildung fertig waren, durften sie den Kanon auslegen, und auf diese Weise bestätigten sie, Jahrgang um Jahrgang, Generation um Generation, dass es diese Texte waren, die tatsächlich entscheidende Bedeutung besaßen. Und das war nicht allzu schwierig – denn der klassische Kanon umfasste bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein kaum mehr als zweihundert Bände.

Warum aber nun die kleine Hochstapelei, eine Liste womöglich mit gutem Grund berühmter Bücher, aber doch auch persönlicher Lieblingslektüren zu „dem Kanon“ zu erklären? Mag sein, dass sich die beteiligten Verlage darüber freuen, ein paar in jüngster Zeit nicht mehr sonderlich erfolgreiche Titel aus ihrer backlist neu unter das Volk bringen zu können. Aber wichtiger ist ein anderes Motiv: Zwanzig Bücher unter Hunderten, ja Tausenden auszuwählen, mit radikaler Willkür sich für diese zwanzig und für keine anderen zu entscheiden, ist ein Akt der entschiedenen Reduktion von Komplexität. So wird eine Welt geschlossen, zugemacht, verriegelt.

Dieser „Kanon“ ist daher eine Entscheidung wider das schlechte Gewissen, wider das ungute Gefühl, das den stets nur halb gebildeten Menschen angesichts so vieler ungelesener Werke, so vieler ungehörter Konzerte, so vieler unbesuchter Theateraufführungen überkommt. Dass es gerade diese Bücher und nicht mehr sein sollen – das heißt für den Leser: Alles andere kannst Du vergessen, alles andere macht Dich nur verrückt, alles andere ist womöglich nur Ballast. Nimm mich mit, spricht diese literarische Kompaktanlage zu ihrem potentiellen Leser, nimm mich mit, das Leben ist kurz, aber siehe Du zu, dass Du nicht ungebildet ins letzte Hemd steigst. Ich bin Dein Weg und Deine Chance. Dieser „Kanon“ ist daher eine ebenso billige wie falsche Anbiederung an die Endlichkeit.

Kurz: dieser „Kanon“ ist das typische Produkt einer Gesellschaft, die sich von einem internationalen Vergleich angeblich lebenspraktisch entscheidender Kenntnisse so sehr hat erschrecken lassen, dass sie den „Bildungsnotstand“ ausgerufen hat und nun Rettung sucht in allerhand Veranstaltungen, in denen mehr oder minder nutzlose Kenntnisse mit Bildung verwechselt werden. Dieser „Kanon“ ist im Geist einer Fernsehsendung namens „Wer wird Millionär?“ entstanden. „Kompetenz“ ist das Schlüsselwort für diese Verwechslung, und darin steckt die Verwandlung von lebendigem Wissen in eine abrufbare Fertigkeit. Dieses Verlangen nach Kompetenz liegt der Gestaltung des angeblichen „Kanons“ als scheinbar verdichtetes Wissen, als Kompaktanlage zugrunde. An solchem Instrumentalismus indessen geht alle Bildung zugrunde – falls sie nicht, was noch wahrscheinlicher ist, von vornherein das Erscheinen eingestellt hat.

Im übrigen ist es nicht einmal wahr, dass es in unserer Gesellschaft keinen Kanon mehr gibt. Es gibt ihn zum Beispiel im Sport, wenn sich ganze Scharen von Anhängern mit Leidenschaft daran erinnern, wann der „Eisenfuß“ Horst-Dieter Hoettges beim Fußballverein „Werder Bremen“ anfing und wann er aufhörte. Es gibt ihn zum Beispiel in der populären Musik, wenn die Zeitungen über ein Konzert des Gitarristen Jeff Beck berichten und dieser Mann allen Ernstes dargestellt wird, als halte er anstatt seiner Fender Stratocaster eine steinerne Tafel mit den Zehn Geboten in der Hand. Und keiner der vielen Bildungskritiker kommt auf den Gedanken, dass in diesen Bereichen ein Kanon von solcher Strenge und Ausschließlichkeit herrscht, wie es sie in der gesamten Literaturgeschichte der Neuzeit nicht für einen Augenblick gegeben hat.

Aber die populäre Kultur huldigt dem Augenblick und dem Ideal seiner Unvergänglichkeit. Sie ahnt nicht, dass sie morgen kalter Kaffee ist, und sie will es auch nicht ahnen. In der Literatur ist das anders, und zwar spätestens seit dem ausgehenden achtzehnten Jahrhundert, seit dem Einzug des historischen Bewusstseins in das Denken. Wenn die Literatur gut ist, weiß sie um ihre Bedingtheit in der Zeit, dann weiß sie, dass sich ihre Gegenwart verdunkeln, dass sie eines Tages ganz der Philologie gehören wird. Und wenn der Schriftsteller gut ist, dann kämpft er darum, für die Lesenden gegenwärtig zu sein, dann will er dabei sein, so lange es geht – eben weil er von vornherein mit dem Gedanken vertraut ist, dass seine Werke überholt sein werden, so wie er selbst andere Schriftsteller überholt hat. Und manch einer kann sich sogar darauf freuen. Wer aber heute glaubt, „den Kanon“ dekretieren zu könne, der hält sich selbst für unvergänglich. Man kann das auch anders sagen: Er gehört zur populären Kultur."

Aus: Süddeutsche Zeitung vom 20.09.2002 "Die Kompaktanlage"

Zu den einzelnen von Marcel Reich-Ranicki ausgewählten Werken des Literaturkanons

 

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