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KommentarSie sind immer da, die Geladenen, als ausgesuchte
und ausgewählte Teilnehmer an den Gesprächsrunden der Literatur-Events.
Sie glänzen mit ihren profunden Kenntnissen was Literatur und Sprache
anbelangt, sind unheimlich gebildet, haben meist einen akademischen Abschluss
und einen Doktor vor dem Namen. Nein, wirklich, da gibt's kein Wenn und
Aber. Erst, wenn jemand das Wort "Netzliteratur" über die
Lippen rollen lässt, zeigt sich, dass sich die Teilnehmer, die vorab
gewusst haben, dass Netzliteratur zum Thema gemacht werden soll, sich
damit nicht auseinander gesetzt haben. "Netzliteratur ist Literatur
im Netz", macht sich breit und darf sich reger Zustimmung unter den
Gesprächsrundenteilnehmern erfreuen. Ob die Teilnehmer an diesen
Gesprächsrunden mit Absicht so zusammen gestellt werden, dass Print-Literatur
im Vordergrund steht? fragt man sich da etwas verwundert. Die Rubrik "Netzliteratur" ist für die Gesprächsrunde eines Literatur-Events die wohl ungeliebteste, aber keineswegs die unwichtigste, denn solche Veranstaltungen sind gut, Themen in bestimmter Weise zu besetzen. Auf Literatur-Events über Netzliteratur hinweg schweigen, geht nicht mehr. Man muss sie erwähnen. Seit Michel Foucault weiss eh jeder, dass man Sex nicht durch Verschweigen bannt, sondern indem man ihn rein intellektuell durch einen bestimmten Diskurs jagt. Dasselbe Kalkül gilt wohl auch für Netzliteratur... Für Printautoren, Verleger, Lektoren, zahlreiche
Germanisten und einen grossen Teil der Surfer ist das Netz nichts anderes
als ein riesiger Marktplatz, auf dem man seine Produkte, vorstellen, anbieten
und verkaufen kann. Netzliteratur ist einmal angewiesen auf miteinander durch gemeinsame Protokolle vernetzte Computer, zum zweiten auf Autoren, die ihre Muttersprache leben und atmen, sich auf den Umgang mit vernetzten Computern verstehen, Dateien erstellen und auf's Netz übertragen und sich mit den unterschiedlichsten Programmiersprachen des Netzes so intensiv auseinandersetzen, dass sie diese wenigstens teilweise beherrschen und nutzen können und zum dritten auf eine Umgebung, eine Gesellschaft, die sich mit Computern befasst und das kulturelle Umfeld bildet, das die unablässig sich verändernden Datenbestände und -darstellungen aufruft und via Computer kommuniziert. Netzliteratur vereinigt Sprach–, Konzept–, Kommunikations–, Design– und Programmierkompetenz. Netzautoren sind Grenzgänger; sie hängen, eingetaucht in ihre Sprache, in ihre Sprachen, kopfüber dem Weltgrat; sie bewegen sich im Spannungsfeld, das sich auf der Linie, welche die Realität vom Virtuellen trennt, das Vernetzte vom Individuellen und das Informatische vom Lebendigen, das rein Funktionelle vom Ästhetischen, eingenistet hat; ihr Handeln ist dem Austausch verpflichtet, der Kommunikation, der Kooperation und ihr Gegenstand heisst Web-Weltgestalten. Weltgestalten - welch grosses Wort, welch enormes Tagesgeschäft! Die "reale" Welt und damit die Welt der meisten Print-Autoren ist vereinfacht gesagt in Wissensgebiete aufgeteilt; diese Gebiete sind nicht rund; jedes Gebiet hat einen Anfang und ein Ende - und einen Rand, wenn es vernetzt ist, dann mehr oder weniger ausschliesslich mit sich selbst oder vielleicht noch mit einem Nachbargebiet, das nicht zur Konkurrenz werden kann. Jeder Mensch hat einen Platz auf einem dieser Gebiete, manchmal nah am Rand oder ganz. Über den Rand hinaus muss einer gar nicht sehen, darüber hinaus sollte er, darf er nicht schauen. Der Politiker hat seinen Ort, der Physiker den seinen und etc. pp. Wer sich dem Print verschrieben hat und kann, wird sich auf einem dieser Gebiete "niederlassen", das bringt wirkliche Rendite, für die man sogar Shareholder begeistern kann; wer das nicht kann, setzt sich mit Love and Crime auseinander oder und im schlimmsten Fall mit Quantenlyrik :-) Die Welt der Netzautoren ist rund; alle Wissensgebiete sind miteinander vernetzt. Netzautoren setzen sich mit der Themenvielfalt und damit mit allen Wissensgebieten auseinander; es gibt kaum eines, das bei ihnen nicht auf Interesse stösst. Während im Literaturbetrieb das Ende der
sich selbst inszenierenden Popkultur ausgerufen wird, gibt es im Internet
einen "Polit-Pop" und einen Globa-Pop, der die Politik auf's
Korn nimmt, die Wirtschaft, die Globalisierung, die Gesellschaft. Da werden
Websites geändert und den Aussagen von den Politikern, die angeblich
hinter diesen Sites stehen, angepasst, da werden Falschmeldungen, die
sich mit falschen Meldungen auseinander setzen, in Umlauf gebracht, da
geben sich Künstler als Politiker aus... 1 Netizens müssen lernen,
sich als kritische Leser, kritische Empfänger von Nachrichten und
Bildern, von Informationen überhaupt, zu behaupten, den Sinn dafür
entwickeln, den es braucht, um heute und in Zukunft als Empfänger
und Sender zu bestehen. Netzliteraten inszenieren Geschichten; sie machen
mit ihren Geschichten auf regelrechten Schwindel aufmerksam und decken
Unwahrheiten auf. ABER ihre Geschichten sind Fiktionen – nicht die
Wahrheit; sie befassen sich mit denselben Dingen und Ereignissen wie das
Original, zeigen Dinge und Ereignisse jedoch aus sehr vielen und ganz
anderen Perspektiven auf; der Zuschauer, der Leser, der Betrachter wechselt
sozusagen laufend den Standort und damit den Blickwinkel. Und immer wieder
sieht alles ganz anders aus. Die sogenannten Wahrheiten verändern
sich kaleidoskopartig, sie fallen auseinander, verändern Form und
Aussehen... Netzautoren und Netzliteraten wissen, dass das
Netz nicht den Ideologen und Dogmatikern überlassen werden darf.
Ideologen und Dogmatiker sind unfähig, über ihre eigenen Ideologien
und Dogmen kritisch zu Reflektieren. Netzliteratur ist Fiction, ist Hype, ist Realfiction, Netzliteratur setzt sich - auch, nicht nur - mit den jeden Tag an uns herangetragenen Politischen Lügen, die nicht erlaubt sind, weil sie nicht wie eh und je dazu dienen, dem Feind Sand in die Augen zu streuen, sondern den eigenen Wählern, auseinander; sie stellt nicht richtig, sie fängt zu webben an und konstruiert sich stets verändernde Flucht-Geschichten. Netzliteratur kann hoch politisch sein, Prozesse beeinflussen, Weltkonzernen ernsthaft zu schaffen machen, Weltbilder über den Haufen werfen - und den Weg in eine Richtung aufzeigen, in die jemand gehen kann oder auch nicht... Netzliteraten sind keine Weltverbesserer oder Wahrheitsfanatiker. Die Choreographie zum politischen Theater bleibt
den Politikern unbenommen, die Auslegung den Medien (TV, Radio, Print),
aber die Fiktionen und das, was daraus resultiert, liegt in der Hand der
Netzautoren, der Netzliteraten. Klar, es gibt cooleres. Mega cool wär's,
wenn endlich mal eine Zeitung oder Zeitschrift den Unterschied zwischen
Netz- und Printliteratur veröffentlichen würde, etwa so:
1 Einige dieser Fiktionen sind berühmt geworden, z.B. die angebliche Website der WTO von der Aktionsgruppe RTMark, der Etoy-War (Reinhold Grether, www.netzwissenschaften.de), naziline.de (Schlingensief, Schilly, Hamlet und Zürich), viele mehr - und nicht zu vergessen Konstantin Seibt's spielerischer Exkurs (WOZ) "Schiller und Goethe konnten das Sniffen nicht lassen", eine Geschichte, die weltweit von (fast) allen Zeitungen und Zeitschriften ungeprüft als "wahr" gedruckt und weiter verbreitet worden ist. Copyright 28. Mai 2001 by Regula Erni |
LesArten im "La Cappella" Swiss - wie man sich (b)rettet Die Poetologie der Information als Element der Netzliteratur
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