Kommentar
Sie sind immer da, die Geladenen, als ausgesuchte
und ausgewählte Teilnehmer an den Gesprächsrunden der Literatur-Events.
Sie glänzen mit ihren profunden Kenntnissen was Literatur und Sprache
anbelangt, sind unheimlich gebildet, haben meist einen akademischen Abschluss
und einen Doktor vor dem Namen. Nein, wirklich, da gibt's kein Wenn und
Aber. Erst, wenn jemand das Wort "Netzliteratur" über die
Lippen rollen lässt, zeigt sich, dass sich die Teilnehmer, die vorab
gewusst haben, dass Netzliteratur zum Thema gemacht werden soll, sich
damit nicht auseinander gesetzt haben. "Netzliteratur ist Literatur
im Netz", macht sich breit und darf sich reger Zustimmung unter den
Gesprächsrundenteilnehmern erfreuen. Ob die Teilnehmer an diesen
Gesprächsrunden mit Absicht so zusammen gestellt werden, dass Print-Literatur
im Vordergrund steht? fragt man sich da etwas verwundert.
Wie dem auch sein mag, die Folge davon ist, dass beim interessierten Publikum,
das möglicherweise ganz andere Vorstellungen von Netzliteratur hat,
"Netzliteratur ist Literatur im Netz" hängen bleibt und
dass die meisten, nicht alle, Tages- und Wochenzeitungen diese Aussage
aufnehmen und weiterverbreiten.
Wenn ich das höre oder lese, möchte ich einfach nur "Quatsch"
sagen und wie viele andere auch viel zu müde, immer wieder dasselbe
wiederholen zu müssen, über alles weitere hinweg gehen. Man
möchte nicht immer wieder sagen müssen, dass im Netz neue Formen
von Geschichten und neue Formen des Geschichten-Erzählens entwickelt
werden. Man möchte nicht immer wieder darauf hinweisen, dass Netzliteratur
nicht brav ist und nicht artig, sondern das Gegenteil. Man möchte
nicht immer wieder und wieder auf die "neue" Ästhetik konkreter
Poesie hinweisen, die durch die Verschiebung von Text-Ebenen oder die
Verwendung von Zeitvariablen zustande kommt. Man möchte auch nicht
immer wieder vom anderen Lesevergnügen sprechen, das sich aus der
Verbindung von Wort, Bild, Ton und Programmierung ergibt, welche die Lesekompetenz
von jedem User herausfordert. Man möchte nicht immer wieder sagen,
dass das Neue nicht dem Alten entspricht, dass das Literatur-Verständnis,
wo die Web-Programmierung eine ebenso grosse Rolle wie die Beherrschung
der Muttersprache spielt, ein anderes ist und immer sein wird.
Die Rubrik "Netzliteratur" ist für
die Gesprächsrunde eines Literatur-Events die wohl ungeliebteste,
aber keineswegs die unwichtigste, denn solche Veranstaltungen sind gut,
Themen in bestimmter Weise zu besetzen. Auf Literatur-Events über
Netzliteratur hinweg schweigen, geht nicht mehr. Man muss sie erwähnen.
Seit Michel Foucault weiss eh jeder, dass man Sex nicht durch Verschweigen
bannt, sondern indem man ihn rein intellektuell durch einen bestimmten
Diskurs jagt. Dasselbe Kalkül gilt wohl auch für Netzliteratur...
Für Printautoren, Verleger, Lektoren, zahlreiche
Germanisten und einen grossen Teil der Surfer ist das Netz nichts anderes
als ein riesiger Marktplatz, auf dem man seine Produkte, vorstellen, anbieten
und verkaufen kann.
Für Netzautoren und Netzliteraten dagegen ist das Netz die Plattform
für Experimente mit Worten, Bildern, Tönen, Videosequenzen und
Programmierung.
Netzliteratur ist einmal angewiesen auf miteinander
durch gemeinsame Protokolle vernetzte Computer, zum zweiten auf Autoren,
die ihre Muttersprache leben und atmen, sich auf den Umgang mit vernetzten
Computern verstehen, Dateien erstellen und auf's Netz übertragen
und sich mit den unterschiedlichsten Programmiersprachen des Netzes so
intensiv auseinandersetzen, dass sie diese wenigstens teilweise beherrschen
und nutzen können und zum dritten auf eine Umgebung, eine Gesellschaft,
die sich mit Computern befasst und das kulturelle Umfeld bildet, das die
unablässig sich verändernden Datenbestände und -darstellungen
aufruft und via Computer kommuniziert. Netzliteratur vereinigt Sprach–,
Konzept–, Kommunikations–, Design– und Programmierkompetenz.
Netzautoren sind Grenzgänger; sie hängen,
eingetaucht in ihre Sprache, in ihre Sprachen, kopfüber dem Weltgrat;
sie bewegen sich im Spannungsfeld, das sich auf der Linie, welche die
Realität vom Virtuellen trennt, das Vernetzte vom Individuellen und
das Informatische vom Lebendigen, das rein Funktionelle vom Ästhetischen,
eingenistet hat; ihr Handeln ist dem Austausch verpflichtet, der Kommunikation,
der Kooperation und ihr Gegenstand heisst Web-Weltgestalten.
Weltgestalten - welch grosses Wort, welch enormes
Tagesgeschäft!
Die "reale" Welt und damit die Welt
der meisten Print-Autoren ist vereinfacht gesagt in Wissensgebiete aufgeteilt;
diese Gebiete sind nicht rund; jedes Gebiet hat einen Anfang und ein Ende
- und einen Rand, wenn es vernetzt ist, dann mehr oder weniger ausschliesslich
mit sich selbst oder vielleicht noch mit einem Nachbargebiet, das nicht
zur Konkurrenz werden kann. Jeder Mensch hat einen Platz auf einem dieser
Gebiete, manchmal nah am Rand oder ganz. Über den Rand hinaus muss
einer gar nicht sehen, darüber hinaus sollte er, darf er nicht schauen.
Der Politiker hat seinen Ort, der Physiker den seinen und etc. pp. Wer
sich dem Print verschrieben hat und kann, wird sich auf einem dieser Gebiete
"niederlassen", das bringt wirkliche Rendite, für die man
sogar Shareholder begeistern kann; wer das nicht kann, setzt sich mit
Love and Crime auseinander oder und im schlimmsten Fall mit Quantenlyrik
:-)
Die Welt der Netzautoren ist rund; alle Wissensgebiete
sind miteinander vernetzt. Netzautoren setzen sich mit der Themenvielfalt
und damit mit allen Wissensgebieten auseinander; es gibt kaum eines, das
bei ihnen nicht auf Interesse stösst.
Während im Literaturbetrieb das Ende der
sich selbst inszenierenden Popkultur ausgerufen wird, gibt es im Internet
einen "Polit-Pop" und einen Globa-Pop, der die Politik auf's
Korn nimmt, die Wirtschaft, die Globalisierung, die Gesellschaft. Da werden
Websites geändert und den Aussagen von den Politikern, die angeblich
hinter diesen Sites stehen, angepasst, da werden Falschmeldungen, die
sich mit falschen Meldungen auseinander setzen, in Umlauf gebracht, da
geben sich Künstler als Politiker aus... 1
"Netzliteratur ist lebendige Inszenierung. Sie kennt keinen Selbstzweck."
Diese Aussage mag wahr sein oder auch falsch. Man sagt: "Die Anmassung
erfolgt im Dienste der Aufklärung und dient der Vermittlung von Medienkompetenz."
Dem mag so sein - oder auch nicht, denn es macht Spass und bereitet Vergnügen,
wenn gut geschützte und von Sicherheitskräften bewachte Politiker,
Manager und Globalisierungsvorantreiber wie ein Schwarm aufgeschreckter
Krähen, deren Flügel seit langem gestutzt sind, aufgeregt und
kopflos zu flattern anfangen.
Der eigentliche Sinn der Auseinandersetzung mit Wahrheit und Schwindel,
Richtig und Falsch, ist Erziehung zum Nach-Denken - ehe zum Urteilen übergegangen
wird. Und mit Nach-Denken ist nicht einfach das diskursive Denken gemeint,
sondern das In-sich-gehen, ausserhalb der realen und virtuellen Welten,
sich alles, was man gelesen und erfahren hat, noch einmal vor Augen führen,
alles noch einmal überdenken und nachvollziehen - ehe man ein Urteil
fällt. Die sogenannten "Fakten", die uns tagtäglich
als "Wahrheiten" aufgetischt werden haben mehr als nur ein wenig
Aufmerksamkeit verdient. Alles, was behauptet wird, mag so sein oder auch
nicht. Ob es denn so ist, wie es scheint, muss der Einzelne selbst beurteilen,
denn, das weiss inzwischen fast jeder, nicht alles, was ist und scheint,
entspricht dem, was es zu sein scheint.
Netizens müssen lernen,
sich als kritische Leser, kritische Empfänger von Nachrichten und
Bildern, von Informationen überhaupt, zu behaupten, den Sinn dafür
entwickeln, den es braucht, um heute und in Zukunft als Empfänger
und Sender zu bestehen.
Wir leben in einem Zeitalter der überhaupt nicht oder nur mangelhaft
geprüften Tatsachenberichte. Drang und Zwang, über ein Ereignis
zu berichten, ehe es eingetreten ist, bringt das Fallenlassen der Nachforschungen
mit sich. "Publish now, edit later" ist dabei zum Prinzip aller
Medien geworden. Es ist schon schlimm genug, dass TV-Anstalten, Radio,
Zeitungen und Zeitschriften nach diesem Prinzip arbeiten lassen, - aber
online ist es noch schlimmer, weil sich gemachte Fehler im Nachhinein
und vom Leser unbemerkt beseitigen lassen - was zum sonderbaren Umstand
einer 'umgekehrten Halbwertszeit' führt, wonach die Relevanz eines
Online-Beitrages wächst mit dem zeitlichen Abstand von seiner Erstveröffentlichung.
Netzliteraten inszenieren Geschichten; sie machen
mit ihren Geschichten auf regelrechten Schwindel aufmerksam und decken
Unwahrheiten auf. ABER ihre Geschichten sind Fiktionen – nicht die
Wahrheit; sie befassen sich mit denselben Dingen und Ereignissen wie das
Original, zeigen Dinge und Ereignisse jedoch aus sehr vielen und ganz
anderen Perspektiven auf; der Zuschauer, der Leser, der Betrachter wechselt
sozusagen laufend den Standort und damit den Blickwinkel. Und immer wieder
sieht alles ganz anders aus. Die sogenannten Wahrheiten verändern
sich kaleidoskopartig, sie fallen auseinander, verändern Form und
Aussehen...
Einige Projekte sind so programmiert, dass die Netizens selbst eine Perspektive
bestimmen können, sich selbst vom Wahrheitsgehalt publizierter Wahrheiten
"überzeugen" können.
Netzautoren und Netzliteraten wissen, dass das
Netz nicht den Ideologen und Dogmatikern überlassen werden darf.
Ideologen und Dogmatiker sind unfähig, über ihre eigenen Ideologien
und Dogmen kritisch zu Reflektieren.
Und die Fiktionen, die von Netzliteraten, Netzautoren geschaffen werden,
dürfen nicht als Wahrheiten stehen bleiben, sonst werden die Erfinder
dieser Geschichten zu den neuen Ideologen, den neuen Dogmatikern; die
Fiktionen müssen in Bewegung bleiben, sich verändern, verbreitern,
verlängern, sich drehen - jede Perspektive und den hintersten Winkel
ausleuchten. Das geht tiefer und tiefer ins Wort und über jeden Bildrand
hinaus und darum herum.
Netzliteratur ist Fiction, ist Hype, ist Realfiction,
Netzliteratur setzt sich - auch, nicht nur - mit den jeden Tag an uns
herangetragenen Politischen Lügen, die nicht erlaubt sind, weil sie
nicht wie eh und je dazu dienen, dem Feind Sand in die Augen zu streuen,
sondern den eigenen Wählern, auseinander; sie stellt nicht richtig,
sie fängt zu webben an und konstruiert sich stets verändernde
Flucht-Geschichten.
Netzliteratur kann hoch politisch sein, Prozesse
beeinflussen, Weltkonzernen ernsthaft zu schaffen machen, Weltbilder über
den Haufen werfen - und den Weg in eine Richtung aufzeigen, in die jemand
gehen kann oder auch nicht... Netzliteraten sind keine Weltverbesserer
oder Wahrheitsfanatiker.
Die Choreographie zum politischen Theater bleibt
den Politikern unbenommen, die Auslegung den Medien (TV, Radio, Print),
aber die Fiktionen und das, was daraus resultiert, liegt in der Hand der
Netzautoren, der Netzliteraten.
Aufklärung über die Aufklärung, das ist seit Jahrzehnten
fällig, - und das erst noch im Gewand der Fiktion, ausserdem im Web,
im Internet, das hat doch was, das ist doch - ähm, ja, ich glaube
auch für mich: echt cool!
Klar, es gibt cooleres. Mega cool wär's,
wenn endlich mal eine Zeitung oder Zeitschrift den Unterschied zwischen
Netz- und Printliteratur veröffentlichen würde, etwa so:
Printautoren zielen mit ihren Werken auf Beständigkeit, auf Überdauern,
auf Ewigkeit ab, während Netzautoren auf schnelle und stete Veränderung,
auf konsequente, temporeiche Verwandlung ihrer Web-Welten, ihrer Werke
aus sind.
1 Einige dieser Fiktionen sind berühmt geworden,
z.B. die angebliche Website der WTO von der Aktionsgruppe RTMark, der
Etoy-War (Reinhold Grether, www.netzwissenschaften.de), naziline.de (Schlingensief,
Schilly, Hamlet und Zürich), viele mehr - und nicht zu vergessen
Konstantin Seibt's spielerischer Exkurs (WOZ) "Schiller und Goethe
konnten das Sniffen nicht lassen", eine Geschichte, die weltweit
von (fast) allen Zeitungen und Zeitschriften ungeprüft als "wahr"
gedruckt und weiter verbreitet worden ist.
Copyright 28. Mai 2001 by Regula Erni
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