Essay für kat.ch

 

Die vorgestellten Mitschreibprojekte haben ihren Ursprung in der Mailinglist "Netzliteratur", wo unter dem Subjekt, das zum Titel des jeweiligen Projektes - Ausnahme: "Webgespräch" - geworden ist, Diskussionen geführt wurden.

Die Verfasser der Mails zu einem bestimmten Thread werden - ohne dies zu wollen - Geburtshelfer eines Mitschreibprojektes. Die Initianten des Projekts frieren den momentanen Stand einer Diskussion für einen Augenblick lang ein und bestimmen damit auch den Anfangsbestand der "Gemeinschaft", die aus denjenigen gebildet wird, welche sich bis zum Zeitpunkt des Einfrierens mit dem Thread auseinandergesetzt haben.

Der Diskussions-Gemeinschaft war das Subjekt, der Gegenstand wichtig; sie hat sich darum geschart, versammelt. Jetzt aber legt der Initiant des Mitschreibprojektes einige Regeln für das Wiederverflüssigen des gefrorenen Textes und für die Erweiterung der Gemeinschaft fest.
Ein Anfang ist gemacht, eine einfach strukturierte Web-Welt mit der Grundlage zu einer eigenen Geschichte entstanden.

Diese Welt ist gemacht aus

  • Texten, welche das Materielle ausmachen,
  • Autoren, welche die Bewohner sind,
  • einer Umwelt, die aus dem Web, HTML, FTP, PCs, MACs, URLs, Programmen, Verknüpfungen, Netztechnik im allgemeinen besteht,
  • den Regeln, welche die Grundlage zu Gesetzen darstellen.

Der gemeinsame Gegenstand, das Schaffen von Etwas, steht im Mittelpunkt; das Gemeinsame hat Priorität. Wo vorher lediglich ein Subjekt gestanden hat, während der Thread schon in andere Bahnen gelenkt worden war, steht jetzt das gemeinsame Interesse der "Bewohner" die kleine Web-Welt zu gestalten, zu beleben und den eigenen Horizont zu erweitern. Wer neu dazu kommt - als "Einwanderer" oder "Ausserirdischer" - wird als Mitwirkender, als Mitgestaltender willkommen geheissen und nicht als Konkurrent eingestuft oder gar abgewiesen.

Das Schreiben ist von überbordender Lust geprägt, von überschäumender Freude, ungeheurem Spass. Es geht nicht darum zu brillieren, da ist kein Gerangel um Geldverdienen, kein Imponieren. - Das Schreiben, das Web-Weltgestalten, ist wichtig, steht im Vordergrund, bleibt, lässt sich nicht verschieben und die Gedanken an ein vielleicht einmal exakt gefertigtes Produkt, das ja immer im Entstehen begriffen und erst dann fertig ist, wenn keiner mehr Lust hat weiterzuschreiben, sind ausgeblendet.

Um das eigentliche Mitschreibprojekt herum wird sehr viel mehr Text produziert als im Projekt selbst. Während die Sprache des Projekttextes einen literarischen Anspruch hat oder haben kann, fehlt letzterer dem das Projekt umgebenden Text ganz und gar. Im Drum-Herum wird die Sprache flappsig; sie driftet ab, wird flach, zieht sich hinter Kürzel zurück und droht, sich in für so manchen Beobachter seltsamen Zeichen aufzulösen.
Die Mitschreiber gleiten von der einen Form zur anderen, vom Umgang mit den Tagesgeschäften, dem täglichen Wahnsinn in das literarisch-dichterische Denken und Schreiben.

Nun hat dieses Schreiben einen nicht zu unterschätzenden Nebeneffekt: Während des Web-Weltgestaltens entsteht ein Geflecht, das aus Lebensfäden gemacht ist. Der Mittelpunkt besagten Gewebes wird von der Idee, dem Gegenstand, der Web-Welt gebildet. Und diesem Mittelpunkt, der nicht austauschbar ist, gilt das gemeinsame Interesse der Menschen, die ihre Lebensfäden sprechend und handelnd in das Gewebe verweben und damit das bereits Vorgewobene so verändern, wie die Fäden, mit denen sie dabei in Berührung kommen, verändernd auf sie wirken. Das gemeinsame Interesse am Mittelpunkt, an der Web-Welt, ist der Stifter der Bezüge zwischen den Menschen. Gäbe es das gemeinsame Projekt nicht, hätten sich die Lebensfäden der Menschen nie berührt und das Gewebe hätte sich nicht bilden können. Die Besorgnis der Menschen gilt dem Mitschreibprojekt, dem Mittelpunkt ihrer Welt, die eine Webwelt ist, zu dessen Wohl sie miteinander sprechen und handeln.

Durch das Miteinanderhandeln und -sprechen, das in diesem Fall ein Miteinandergestalten und ein Einanderschreiben ist, offenbaren Menschen, wer sie sind und zeigen aktiv die Einzigartigkeit ihres Wesens.

Ein Konfliktpotential ist auch dann, wenn das Regelwerk auf ein Minimum (Beispiel: "Baal lebt") beschränkt ist, vorhanden. Doch eine gesunde Streitkultur gehört m.E. auch in die neu geschaffene Mitschreibprojekte-Welt; alles andere wäre widernatürlich, d.h., es widerspräche den menschlichen Vermögen, zu handeln, zu denken, zu wollen und zu urteilen. Wenn die Gemeinde der Mitschreiber allerdings die kritische Zahl von 15 überschritten hat, werden die Auseinandersetzungen um das Regelwerk mühsam; man müsste einen Supervisor ernennen um Streitigkeiten zu schlichten und einen Projektleader um Newbies an das Projekt heranzuführen...

Ein Mitschreibprojekt ist vollendet und den logischen Tod gestorben, wenn keiner mehr weiter schreibt. Der Text, die geschaffene Web-Welt, wenn auch ohne Bewohner, bleibt erhalten; der Text, die Web-Welt hat ja eine Geschichte und damit verknüpft ist die Geschichte der "Ab-" oder "Auswanderer".
Pädagogen, Soziologen, Literaturkritiker, Linguisten, Germanisten und Psychologen werden von verlassenen Webwelten schier magisch angezogen und so finden die den logischen Tod gestorbenen Webwelten Einlass in Semesterarbeiten, Referate und Dissertationen, d.h. ihnen ist nicht nur "ewiges" HTML-Leben beschieden :-)

Shattered (Regula Erni)
Baal lebt (Regula Erni)
Literatur-Web-Ring bla
(Guido Grigat)
Webgespräch (Claudia Klinger)
Digihome (Claudia Klinger)
23.40 Uhr (Guido Grigat)

Zofingen, den 17. Dezember 2000

Text Regula Erni, einige Zitate von Claudia Klinger

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