Wenn Mitternacht vorbei, der Bildschirm
auf «Aus» und «Gute Nacht» gesagt ist, der Asphalt
schweigt, das Dröhnen der Triebwerke verstummt, die Stille sich über
die Erde legt, tut sich das All auf mit all seinen Sternen, mit all seinen
Himmeln. Die Hitze des Tages ist einer kühleren Nacht gewichen. Ein spezieller
Duft liegt in der Luft nach einem Mund voll Glück und einer Hand
voll Zuversicht. Im Gras liegen, den Himmel, die Sterne direkt vor Augen,
Linien ziehen, Fäden spannen, verknüpfen - kreuz und quer. Winde
kommen von den Bergen, den Ebenen, den Wüsten, den Meeren; sie sind voller
Musik und codierter Botschaften; sie treffen sich, vereinigen sich - und zerfallen...
Eine sanfte Bö streift sacht die Haut und erzählt eine ihrer vielfältig
und raffiniert verschlüsselten Geschichten. Die Haut decodiert, entziffert;
die Bö hat als Brise auf See ein Segel gestrafft und am Rand der Wüste
eine dünne Zeltwand erzittern lassen... O, er wird noch eine Weile bleiben,
der geliebte Sommer. Kein System ohne Übersetzung; keine Botschaften
ohne Botschafter. Botschaften und Code, Übersetzung und Übertragung,
Vermitteln und Weiterleiten, Ausführen und Annullieren, Übergänge,
direkte und indirekte
Gletscher als Ströme fester
Materie, Flüsse als Ströme von Wasser, Winde als Ströme von
Luft, Vulkane als Ströme von Feuer, Kontinente als auf Wasser schwimmende
Erde. Ein gewaltiger Kommunikationsraum aus physikalischen Strömen. Augen
folgen den unsichtbaren Linien, den Fäden, welche die Sterne miteinander
verknüpfen. An die Luftstrassen muss da einer denken, an eines der künstlichen
Netze, die Menschen Hände geschaffen haben, an die Verkehrsnetze hier
unten, auf der Erde, an das Telefonnetz, an die Satelliten, die als künstliche
Sterne am Himmel prangen und das Telefonnetz so hervorragend ergänzen,
dass es eines Tages überflüssig sein wird. Ein Stern, der grösste,
aus dem Kleinen Bären, mit dem kleinsten des Grossen Wagens mit den Knoten
vom Coma Haufen in Berenikes Haar, und das Netz um den Adler mit der Waage,
der Jungfrau, des Löwen verknüpft - den Faden ziehen, vor, nach
rechts, nach links und zurück. Die Fäden laufen, sie kreuzen und
queren den Himmel, der vor langer Zeit für lange Zeit ein Zeltdach gewesen
ist. Irgendwo müssen die Ströme zusammen kommen, ihre Botschaften
austauschen, sich trennen, die Botschaften verlesen, im Weiterziehen filtern,
übersetzen, den eigenen Botschaften anpassen, in den Sand der Wüsten
schreiben, auf glatte Wasseroberflächen, die Haut der Menschen
oder speichern. Der Himmel, das Universum, das All ein unendlicher
Kommunikationsraum? Dendriten. Ob jeder Stern mit Dendriten bespickt ist,
um Signale zu empfangen und Neuriten, damit er sie weiterleiten kann? Sterne
Neuronen? Lebende Zellen? Das All ein unendlicher Speicher, ein unvorstellbar
grosses, weil grenzenloses Netzwerk, ein kolossaler, ein monströser Kommunikationsraum
- ohne Anfang, ohne Ende, ein ohnehin schon unendliches, sich immer weiter
entwickelndes, sich ausdehnendes Hirn - ein nicht vorstellbares, weil grenzenloses?
Warum senden Sterne Signale aus und wohin? Eine Welle zerfällt in kleinere
Wellen, eine Brise in Böen. Zerfallene Wellen zeigen fraktale Ränder.
Wind belebt. Die Kelten haben gewusst, warum sie Wind und Geist gleichsetzten.
Wind. Welle. Surfen. Dahingleiten, lang, schnell auf unsichtbaren Kraftlinien,
die auf keine Wasserwand geschrieben sind. Eine Kür, die keiner vorgezeichnet
hat. Eine ungeschriebene Partitur, auf dem Brett ein Equilibrist, den Körper
dem Brechen der Wellen, der Brandung geometrisch exakt angepasst. Hermes der
fliegende Götterbote. Die Sterne verblassen. Friede liegt in der Luft.
Stille. Der Himmel wird durchsichtig, gelb... Getöse setzt ein; die Welt
ist aufgewacht. Ein Sprung ins Wasser und spüren, dass das Denken einer
glückhaften Welle der Erregung ähnelt, die in viele kleine zerfällt.
Die Sterne. Das geschichtete Netzwerk. Dendriten. Neuriten. Die Ströme.
Der Wind des Denkens. Die vielen kleinen Wellen - . Bildschirm ein. In die
Sprache gehüllt kopfüber dem Weltgrat, der das Reale vom Virtuellen,
das rein Informative vom Lebendigen, das Funktionelle vom Ästhetischen
trennt, sich fallen lassen - unbekümmert schaukeln, kurzschliessen mit
dem Netz, und wissen, da werden Menschen sein, lebendige, witzige, kluge,
träge, gescheite und schlaue. Menschen mit Wind in den Haaren, die Gesichter
der Sonne zugewandt, dem peitschenden Regen ausgesetzt, den Stürmen der
Welt, des Lebens, den Elementen der Erde. Menschen, denen es ungeheuren Spass
macht und eine Freude ist, neue surreale Webwelten, die selten an reale, häufig
an visionäre und utopische erinnern, zu schaffen. Kosten- Nutzenanalysen
haben keine Bedeutung; der Gegenstand, um den man sich schart, der zu gestalten
ist, steht im Mittelpunkt des Denkens, des Handelns; jeder gibt, was er zu
geben imstande ist, jeder trägt bei, keiner verweigert sich oder seine
Leistung. Weil das Netz immer noch ein Medium des Übertragens geschriebener
Worte ist, entfällt das Hintergrundrauschen, das aufgeregte Geplapper
einer wie auch immer gearteten Gruppe, das einem immer öfter jedes Schaffen
in der Welt, die als die "wirkliche", die "reale" bezeichnet
wird, zu vergällen vermag; weiss einer nicht weiter, springt der andere
mit einem hilfreichen Script, einem Tipp oder guten Rat ein. Neue Web-Welten
werden geschaffen frei und unbekümmert, sorglos, verwegen - kühn.
Hm, für die meisten der Vielen manchmal zu kühn vielleicht. Vor
allem, wenn dadurch politische Lügen aufgedeckt werden und beim Entschleiern
von Unwahrheiten keiner ein Auge zudrückt. In einer anderen warmen Sommernacht
werden sich die Fäden von dort oben herab gespindelt haben; das Sternenetz
hat sich mit den Dingen, die uns in einem Netz von Netzen gegeben sind, verknüpft.
Linken, verknüpfen, verknoten, vernetzen das Globale mit dem Lokalen,
das Unsichtbare mit dem Sichtbaren...
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