"Der Lange Marsch"

von Rafael Chirbes

Chirbes ist kein Schwätzer; er ist einer der großartigsten Erzähler der Gegenwart! Wenn ich eine Prophezeiung wagen dürfte, würde ich behaupten: mit ihm ist ein neuer Dickens in Erscheinung getreten...

Dem etwas schludrigen Personenverzeichnis, wie wir es von Dostojewski kennen, folgen 329 Seiten: hehre Worte, große Hoffnungen, dumpfes Sichabfinden, kleine Triumphe, bitteren Verrat und herbe Enttäuschungen – ohne Absatz, an einem Stück. Bei aller Liebe zum Buch, zu Büchern und Geschriebenem: auf den ersten Blick kein zum sofortigen Lesen einladendes Buch.

Lebensläufe nebeneinander gestellt – um Vergleiche zu ziehen. Begegnungen mit Menschen aus allen Teilen Spaniens.

Der Hauptstrang beginnt in den vierziger Jahren und endet in den Sechzigern; ein paar Nebenstränge reichen bis in die späten Dreißiger zurück und ein paar wenige bis in die frühen Siebziger. Noch ehe Franco stirbt, bricht das Buch ab.

In einem Tal Galiciens wird in den vierziger Jahren, während stürmisches Wetter herrscht, ein Kind geboren. Die Familie des Bauern Amado weiß, daß die Natur Gewaltiges anzurichten vermag; sie ist darauf eingestellt. Die Willkür der Behörden jedoch ist ihr bis zu dem Tag, an dem das Tal in einen Stausee verwandelt und die Bevölkerung ohne Federlesens und große Abfindung aus dem gewohnten Leben vertrieben wird, unbekannt...

Vom Bauern ist die Rede, vom Arzt, von der Großgrundbesitzerin, dem Tagelöhner und dessen Frau, die im Bett des Bäckers Geld verdient, dem windigen Aufsteiger und dem Schuhputzer, der sich um körperliche Unversehrtheit und Verstand gesoffen hat.

Ein Roman mit vielen Figuren; ein Viel-Familien-Roman. Ein Roman zweier Generationen... Eine aufregende Komposition; ein "Rhapsody". Nicht in "blue"; in "black-red". Sie endet in jenen Misstönen, die wir von Gershwins "Boléro" her kennen: Der letzte Akkord. Das letzte Kapitel spielt in der "Direcciòn General de Seguridad".

Hinter den Geschichten, hinter den vielschichtigen Handlungen, die sich aneinanderreihen und hin und wieder überschneiden wird das Ausmaß der Gewalt und des Selbstbetrugs einer Gesellschaft ruchbar, die sich von der Diktatur erst nach 1975 löste.

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